
Ständig zerstreut, dauernd unter Strom – aber warum? Viele Erwachsene, vor allem Frauen, leben jahrelang mit einem Gefühl von Überforderung, ohne eine konkrete Erklärung dafür zu haben.
Katrin Stellberger war eine von ihnen. Erst mit 47 Jahren erfuhr sie, dass sie an ADHS leidet – und plötzlich ergab ihr ganzes Leben rückblickend Sinn. Doch sie ist kein Einzelfall. Immer mehr Menschen erkennen erst spät, was wirklich hinter ihrem inneren Chaos steckt.
1. Alltag mit ADHS: Zwischen Reizflut und Erschöpfung

Der Alltag mit ADHS ist wie ein nie endender Hürdenlauf. Termine werden vergessen, Gespräche schweifen ab, To-do-Listen bleiben liegen. Gleichzeitig erleben viele Betroffene sogenannte Hyperfokus-Phasen: Stundenlange Konzentration auf eine einzige Sache, während der Rest der Welt ausgeblendet wird. Das macht ADHS paradox – und für Außenstehende schwer nachvollziehbar.
Hinzu kommen oft Schlafprobleme, Stimmungsschwankungen oder Reizempfindlichkeit. Ohne passende Strategien kann das zur totalen Erschöpfung führen. Deswegen ist eine individuelle Behandlung so entscheidend.
2. Wenn Gedanken nie zur Ruhe kommen

ADHS wird oft mit zappenden Kindern assoziiert – dabei zeigt sich die Störung bei Erwachsenen ganz anders. Viele Betroffene berichten von einem permanenten inneren Rauschen, als würde ein Fernseher auf allen Kanälen gleichzeitig laufen. Der Kopf ist nie still. Entscheidungen dauern ewig, Gedanken springen, Prioritäten verschwimmen.
Dieses Gefühl wird oft als Konzentrationsschwäche oder Schusseligkeit abgetan – dabei steckt eine neurobiologische Ursache dahinter. Der Dopaminhaushalt ist bei ADHS gestört, was Denkprozesse und Aufmerksamkeit beeinflusst – ohne dass Betroffene selbst wissen, warum.
3. Warum Frauen oft später diagnostiziert werden

Bei Mädchen wird ADHS seltener erkannt – sie fallen nicht durch Hyperaktivität auf, sondern durch Tagträumerei, Reizbarkeit oder innere Unruhe. Viele entwickeln in der Kindheit Strategien, um „funktional“ zu wirken. Später im Erwachsenenalter brechen diese Kompensationen oft unter Stress zusammen: Job, Familie, Haushalt – das System überlastet.
Studien zeigen, dass ADHS bei Frauen häufig erst in der Lebensmitte entdeckt wird, oft nach Burnout- oder Depressionsdiagnosen. Genau wie bei Katrin Stellberger, die sich über Jahrzehnte selbst falsch einschätzte – und sich in Wahrheit nur nie verstanden fühlte.
4. Diagnose ADHS: Für viele eine Erleichterung

Die späte Diagnose ist für viele kein Schock, sondern eine Befreiung. Endlich hat das ständige Versagen, das Gefühl von Chaos und Unfähigkeit einen Namen. Therapien, Medikamente oder Coaching helfen, den Alltag besser zu strukturieren. Besonders wichtig: der Austausch mit anderen Betroffenen.
Auf Plattformen wie Instagram oder in Foren berichten viele über ihre „Erwachsenen-ADHS“, geben Tipps und teilen Erfahrungen. Katrin etwa sagt, sie könne sich zum ersten Mal selbst verzeihen – denn sie weiß nun: Sie war nie dumm. Ihr Gehirn tickt nur anders.
5. Die Rolle von Medikamenten – und ihre Wirkung

Viele Erwachsene mit ADHS berichten von einer sofort spürbaren Verbesserung nach Beginn einer medikamentösen Therapie. Präparate wie Methylphenidat (Ritalin) oder Elvanse helfen, die Reizfilter im Gehirn zu regulieren und den Dopaminspiegel zu stabilisieren. Die Gedanken werden geordnet, der Alltag wird greifbarer.
Aber: Medikamente allein reichen selten. Ohne begleitende Therapie oder Coaching bleiben die Alltagsprobleme bestehen. Deshalb wird heute fast immer ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, bei dem Struktur, Selbstakzeptanz und Alltagsroutinen genauso wichtig sind wie der medizinische Teil.
6. ADHS verstehen – statt verurteilen

Noch immer kursieren viele Vorurteile: ADHS sei eine „Modekrankheit“ oder eine Ausrede für Faulheit. Dabei zeigt die Forschung klar: Es handelt sich um eine neurologische Entwicklungsstörung, die das ganze Leben beeinflusst.
Wer ADHS hat, ist nicht weniger intelligent – im Gegenteil. Viele Betroffene sind hoch kreativ, empathisch und lösungsorientiert, wenn man sie richtig fördert. Katrin Stellbergers Geschichte ist eine von vielen. Und sie zeigt: Es ist nie zu spät, sich selbst neu zu entdecken – und den Fernseher im Kopf leiser zu drehen.