
Eine neue Gesundheitskampagne der türkischen Regierung schlägt hohe Wellen. Unter dem Motto „Lerne Dein Gewicht kennen, lebe gesund“ sollen Millionen Bürgerinnen und Bürger öffentlich gewogen werden – mit dem Ziel, gegen Übergewicht vorzugehen. Was nach Prävention klingt, entwickelt sich aktuell zu einer gesellschaftlichen Kontroverse.
Die Methoden der Umsetzung und die Reaktionen aus der Bevölkerung lassen erahnen, wie tief das Thema reicht. Ist das Fürsorge oder Kontrolle? Viele sehen in der Maßnahme einen weiteren Schritt hin zu einem übergriffigen Staat. Erste Erfahrungsberichte kursieren bereits in sozialen Netzwerken – und sorgen für hitzige Debatten. Die Empörung wächst – auf den Straßen und im Netz.
1. Plötzlich auf der Waage

In Parks, an U-Bahn-Stationen oder vor Stadien: Bürgerinnen und Bürger der Türkei werden seit dem 10. Mai unangekündigt gewogen und vermessen. Die Aktion, die noch bis zum 10. Juli läuft, wirkt wie eine Mischung aus Gesundheitscheck und Überraschungskontrolle. Ziel ist es, den Body-Mass-Index (BMI) festzustellen und bei Überschreitung eines Wertes von 25 Hinweise zum Abnehmen zu geben.
Kritiker sprechen bereits von öffentlicher Bloßstellung, Unterstützer von notwendiger Aufklärung. Bisher ist unklar, ob die Teilnahme freiwillig ist. Der Umgang mit dem eigenen Körpergewicht wird auf diese Weise zum öffentlichen Thema – mit Konsequenzen für das Vertrauen in staatliche Maßnahmen.
2. WHO-Zahlen alarmieren

Die Aktion kommt nicht von ungefähr: Die Türkei gehört laut Weltgesundheitsorganisation zu den Ländern mit der am schnellsten wachsenden Zahl fettleibiger Menschen. Rund 32 Prozent der Bevölkerung gelten als fettleibig, fast doppelt so viele wie im EU-Durchschnitt.
Professor Mehmet Cindoruk warnt vor einer düsteren Prognose: Bis 2060 könnten 94 Prozent der türkischen Bevölkerung übergewichtig oder fettleibig sein. Der BMI-Wert von 30 markiert bereits den Bereich der Adipositas. Angesichts dieser Entwicklung erscheint frühzeitige Aufklärung wichtig. Doch die gewählte Methode, öffentliches Wiegen, wird von vielen als demütigend empfunden – obwohl das Ziel durchaus medizinisch sinnvoll sein mag.
3. Kritik an der Umsetzung

Die öffentliche Durchführung der Gewichtskontrollen sorgt für Empörung. In sozialen Medien berichten Betroffene, dass sie auf offener Straße angesprochen, gewogen und an Gesundheitsämter weitergeleitet wurden. Besonders in Städten wie Istanbul formiert sich Widerstand. Die bekannte Professorin Gökben Hizli Sayar berichtete, wie sie sich einer Kontrolle nur mit Mühe entziehen konnte.
Auf Plattformen wie X wird die Aktion mit Radarkontrollen verglichen – nur, dass sie diesmal den Körper statt das Auto betreffen. Viele Menschen fühlen sich entmündigt und beschämt. Trotz guter Absichten wird die Kampagne als übergriffige Maßnahme einer zunehmend autoritär auftretenden Regierung wahrgenommen.
4. Zwischen Kontrolle und Zwang

Ein zentraler Kritikpunkt: Ist die Teilnahme freiwillig? Das Gesundheitsministerium hat sich hierzu bislang nicht eindeutig geäußert. Während einige Bürger*innen die Einladung zur Waage ablehnen konnten, berichten andere von Druck durch die Kontrolleure. In einem politischen Klima, in dem zunehmend Überwachung und Einschränkungen kritisiert werden, fällt diese Maßnahme auf besonders fruchtbaren Boden für Misstrauen.
Besonders jüngere Menschen empfinden die Kontrollen als Zeichen eines Staatsverständnisses, das mit liberaler Selbstbestimmung wenig zu tun hat. Die Frage bleibt offen: Geht es hier wirklich nur um Gesundheit – oder um eine Demonstration von Macht?
5. Widerspruch zwischen Armut und Gewicht

Auffällig ist: Trotz hoher Armut und rasant steigender Lebensmittelpreise nimmt das Gewicht der Bevölkerung weiter zu. Der Mindestlohn liegt umgerechnet bei rund 500 Euro, viele Renten sogar darunter. Wer sparen muss, greift oft zu billigem, ungesundem Fast Food. Der Zugang zu frischen, nährstoffreichen Lebensmitteln bleibt vielen verwehrt.
Die Inflation, die aktuell bei knapp 40 Prozent liegt, verschärft dieses Problem zusätzlich. Bewegungsmangel und billige Ernährung sind die Folge. Dass Menschen zunehmen, obwohl sie finanziell kaum über die Runden kommen, ist ein sozioökonomisches Problem – und keines, das man allein mit öffentlichem Wiegen lösen kann.
6. Politiker im Zwiespalt

Auch Gesundheitsminister Kemal Memisoglu ließ sich öffentlich wiegen – mit überraschendem Ergebnis: Sein BMI überschritt selbst den Normalbereich. „Ich bin wohl etwas drüber“, gab der Minister unumwunden zu. Er wolle sich nun an eine Diät halten und mehr spazieren gehen. Diese Geste wirkte einerseits menschlich und nahbar, konnte aber den öffentlichen Unmut nicht dämpfen.
Viele sahen darin eher ein taktisches Manöver als echte Selbstkritik. Dass selbst Regierungsmitglieder die eigenen Richtlinien nicht erfüllen, wirft Fragen zur Glaubwürdigkeit der Aktion auf. Und es zeigt: Übergewicht ist kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem – das nicht mit Symbolpolitik gelöst werden kann.
7. Der Ruf nach anderen Prioritäten

Während Kontrollaktionen auf der Straße laufen, machen viele Menschen ihrem Ärger Luft. In sozialen Netzwerken fordern sie: „Kümmert euch um hungrige Rentner statt um dicke Passanten.“ Der Hinweis auf Armut, Wohnungsnot und steigende Lebenshaltungskosten zeigt, wie tief die Frustration sitzt.
Viele empfinden die Kampagne als Ablenkung von wichtigeren Themen. Statt Menschen bloßzustellen, müsse man strukturell ansetzen – mit besserem Zugang zu Bildung, gesunder Ernährung und Bewegung. Die Kampagne stößt also nicht nur wegen ihrer Methodik auf Kritik, sondern auch, weil sie das Gefühl verstärkt, dass die Regierung die eigentlichen Probleme der Bevölkerung nicht ernst nimmt.