Praxis zu verschenken – doch keiner will sie haben

Dr. Bernd Zerfaß (69) bemängelt, dass es in Deutschland zu wenige Ärzte gibt. Er spricht sich dafür aus, die schulischen Voraussetzungen für das Medizin-Studium zu verändern. „Denn an Interessenten mangelt es nicht“, so der Kinder-Arzt
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Mitten im idyllischen Kirn steht eine komplett ausgestattete Kinderarztpraxis – bereit zur Übergabe. Seit fast vier Jahrzehnten kümmert sich Dr. Bernd Zerfaß liebevoll um seine kleinen Patienten. Doch mit dem nahenden Ruhestand rückt ein Problem in den Vordergrund, das in vielen ländlichen Regionen Deutschlands spürbar wird: Es gibt keinen Nachfolger.

Trotz zahlreicher Bemühungen findet sich niemand, der die Praxis übernehmen will. Der engagierte Mediziner hat deshalb beschlossen, sie zu verschenken – samt Einrichtung, Patientenstamm und erfahrenem Team. Was auf den ersten Blick wie ein Traumstart klingt, scheint für viele abschreckend. Dabei steckt hinter dem Angebot nicht nur ein Schicksal, sondern auch ein wachsendes Problem in der medizinischen Versorgung auf dem Land.

1. Eine Praxis im Herzen von Kirn

Die Praxis von Dr. Zerfaß befindet sich im Erdgeschoss eines denkmalgeschützten Hauses. Das Obergeschoss bewohnt der Arzt privat. Der potenzielle Kinderarzt-Nachfolger könnte ohne Schulden starten, müsste lediglich eine monatliche Miete zahlen
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Mitten im rheinland-pfälzischen Kirn, eingebettet zwischen Hunsrück und Nahe, liegt die Praxis von Dr. Bernd Zerfaß. Seit 35 Jahren behandelt er hier Kinder, kennt seine Patienten oft von Geburt an. Nun möchte er in den Ruhestand gehen, doch seine Praxis bleibt ohne Nachfolger. Dabei bietet der Standort viele Vorteile: gute Anbindung, familiäre Atmosphäre, treue Patienten.

Das Problem ist nicht die Praxis, sondern die Perspektive. Junge Ärzte scheuen den Schritt in die Selbstständigkeit. Trotz attraktiver Bedingungen will niemand übernehmen. Zerfaß hat sich deshalb entschieden, die komplette Praxis zu verschenken. Doch auch dieses Angebot konnte bislang niemanden locken. Dabei ist der Bedarf groß und die Konsequenzen einer Schließung gravierend.

2. Ein Geschenk mit allem Drum und Dran

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Geräte, Ausstattung, Patientenkartei, eingespieltes Team: Dr. Zerfaß verschenkt nicht nur Räume, sondern ein funktionierendes System. Die Praxis verfügt über drei Behandlungszimmer, ein Wartezimmer, ein kleines Labor und eine Anmeldezone. Die medizinischen Geräte umfassen u.a. ein EKG, ein Ultraschallgerät sowie Ausstattung für Hör- und Sehtests.

Vier Arzthelferinnen und eine Reinigungskraft sichern den Betrieb. Die Praxis befindet sich im Erdgeschoss eines historischen Hauses; das Obergeschoss bewohnt der Arzt privat. Wer einsteigt, zahlt nur Miete – und startet schuldenfrei in den Beruf. Trotz dieses attraktiven Angebots bleibt das Interesse aus. Das zeigt, wie schwierig es ist, jüngere Mediziner für ländliche Regionen zu gewinnen.

3. Neun Jahre ohne Erfolg

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Seit fast einem Jahrzehnt sucht der 69-jährige Mediziner nach einer Lösung. Annoncen im In- und Ausland, Anzeigen in Fachzeitschriften, Versuche über Online-Portale: Nichts hat bislang gefruchtet. Dr. Zerfaß wollte sogar eine sanfte Übergabe organisieren: mit gemeinsamer Praxiszeit, um den Nachfolger einzuarbeiten. Doch aus dem Wunsch wurde Ernüchterung.

Weder deutsche noch ausländische Interessenten meldeten sich verbindlich. Die Angst vor der Selbstständigkeit scheint zu groß. Viele junge Ärzte bevorzugen sichere Anstellungen in Kliniken. Damit bleibt ein großes Versorgungsloch in Kirn bestehen. Dr. Zerfaß hätte sich eine andere Form des Abschieds gewünscht. Nun droht seiner Praxis das Aus.

4. Eine Frage der Lebensqualität

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Dr. Zerfaß betont: Die Rahmenbedingungen sind ideal. Keine Nacht- oder Wochenenddienste, sechs bis acht Wochen Urlaub pro Jahr und ein stabiler Patientenstamm mit rund 1600 Kindern. Wer hier arbeitet, hat geregelte Arbeitszeiten und ausreichend Freizeit. Auch wirtschaftlich sei die Praxis solide: „Man müsste bewusst alles falsch machen, um hier nicht über die Runden zu kommen.“

Doch selbst diese Argumente reichen offenbar nicht aus, um junge Mediziner zu motivieren. Der Standort gilt als ländlich, obwohl Kirn gut angebunden ist. Die Angst vor Isolation und Bürokratie dominiert. Dabei wäre hier viel Lebensqualität zu finden – beruflich wie privat. Es fehlt an Mut, nicht an Möglichkeiten.

5. Wenn kein Arzt mehr da ist

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Sollte kein Nachfolger gefunden werden, muss die Praxis geschlossen werden. Das wäre für viele Familien ein ernstes Problem. Die nächste Kinderarztpraxis liegt in Bad Kreuznach, mehr als 30 Kilometer entfernt. Schon jetzt nehmen umliegende Praxen keine neuen Patienten mehr auf. Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen, Rezepte für chronisch kranke Kinder: All das wäre mit enormem Aufwand verbunden.

Besonders betroffen wären Kinder mit Behinderung, die eine kontinuierliche Betreuung benötigen. Die Versorgungslücke wäre eklatant. Auch Eltern, die kein Auto besitzen, geraten unter Druck. In Kirn würde eine zentrale Stütze der Gesundheitsversorgung wegbrechen. Und das, obwohl sie eigentlich noch da ist – nur eben ohne jemanden, der sie nutzt.

6. Die emotionale Seite des Abschieds

Bernd Zerfaß während seiner Kinderklinik-Zeit in Trier 1981
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Für Dr. Zerfaß ist der Abschied mehr als nur das Ende seiner beruflichen Laufbahn. Er hat viele seiner Patienten von Geburt an begleitet, kennt ihre Familien, ihre Geschichten. Die Praxis ist sein Lebenswerk, und die Tür einfach zu schließen, fällt ihm schwer. Besonders bewegt ihn die Sorge um seine jungen Patienten.

Denn für ihn ist klar: Medizin bedeutet Verantwortung – nicht nur für den Einzelnen, sondern für die Gemeinschaft. Seine Praxis zu verschenken ist deshalb kein Akt der Resignation, sondern ein Aufruf zur Mitverantwortung. Wenn sich niemand findet, trägt am Ende nicht nur der Arzt die Last des Scheiterns, sondern ein ganzes System.

7. Ein Spiegel der ärztlichen Versorgungslandschaft

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Dr. Zerfaß ist kein Einzelfall. In ganz Deutschland – vor allem auf dem Land – stehen ähnliche Praxen leer. Nachwuchsmangel, Bürokratielast, hohe Anforderungen und fehlende Perspektiven schrecken junge Mediziner ab. Die Folge: eine Unterversorgung, die sich zuspitzt. In Rheinland-Pfalz gibt es weitere Kinderärzte, die in den Ruhestand gehen, ebenfalls ohne Nachfolger.

Die medizinische Grundversorgung droht zu erodieren. Initiativen und finanzielle Anreize scheinen bisher wenig zu bewirken. Der Fall Kirn ist ein Beispiel für eine Entwicklung, die vielen Regionen bevorsteht. Es braucht mehr als nur Appelle – nämlich konkrete Unterstützung und strukturelle Lösungen. Sonst wird aus der Ausnahme ein Normalfall.

8. Ein letzter Appell an die Zukunft

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Dr. Zerfaß hofft noch immer, dass sich jemand meldet. „Vielleicht kommt ja doch noch jemand um die Ecke.“ Er möchte guten Gewissens gehen, nicht mit der Ungewissheit, dass sein Lebenswerk verloren geht. Die medizinische Versorgung von Kindern liegt ihm am Herzen – auch über seinen Ruhestand hinaus.

Sein Appell richtet sich an junge Ärzte, aber auch an Gesundheitspolitik und Gesellschaft: Wer Versorgung will, muss Verantwortung teilen. Die Praxis in Kirn steht bereit. Es fehlt nur jemand, der die Chance erkennt und ergreift. Vielleicht ist das Geschenk zu wertvoll, um es nicht anzunehmen. Und vielleicht ist genau das die Geschichte, die Deutschland gerade braucht.

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Tardigraden, auch bekannt als "Wasserbären", sind winzige Lebewesen, die extreme Temperaturen, hohen Druck, Strahlung und sogar das Vakuum des Weltraums überleben können. Sie tun dies, indem sie in einen Zustand der Kryptobiose eintreten, bei dem ihre Stoffwechselaktivität nahezu zum Erliegen kommt. Diese Fähigkeit macht sie zu einigen der widerstandsfähigsten Organismen auf der Erde.